Rückblick zum Fachgespräch „Herausforderungen des steigenden Crystal-Konsums in Chemnitz“ am 22.06.2015

Chemnitz besonders stark von Crystal-Problematik betroffen
Der alarmierende Anstieg an Beratungsbedarf aufgrund des zunehmenden Crystal-Konsums stellt Sachsens Suchthilfesystem vor enorme Herausforderungen. Die Stadt Chemnitz sowie die Region Südwestsachsen sind in besonderem Maße davon betroffen. Crystal ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Suchtberatungs- und Behandlungsstellen, Einrichtungen der Familienberatung, der Kinder- und Jugendhilfe, Schulen, Krankenhäuser, Polizei sind mit den Auswirkungen des steigenden Konsums konfrontiert.

Vor diesem Hintergrund hat der Chemnitzer Landtagsabgeordnete Volkmar Zschocke, sozial- und gesundheitspolitischer Sprecher der GRÜNEN Fraktion am 22. Juni 2015 zu einem Fachgespräch in das GRÜNE Regionalbüro eingeladen. Dabei ging es um die Fragen:

  • Welche Probleme sehen die Fachkräfte in ihrer alltäglichen Arbeit bei der Behandlung bzw. Beratung von Crystal-KonsumentInnen?
  • Wirken die Maßnahmen der Landespolitik zur Bekämpfung von Crystal auch auf kommunaler Ebene? Welche Handlungsbedarfe gibt es vor Ort?
  • Wie kann die Ausbreitung der Crystal-Problematik verhindert werden?

Die Herausforderungen bei der Bekämpfung von Crystal sind vielfältig
In einer kurzen Einführung wies Volkmar Zschocke auf die komplexen durch Crystal verursachte Problemlagen hin: die Breite der Konsumentengruppen, schwere psychische Begleiterkrankungen, ein hohes Potential an Fremdgefährdung, insbesondere im Hinblick auf konsumierende Eltern. Gleichzeitig weist die Region erhebliche Defizite bei der Prävention und Strafverfolgung auf. Bereits in der letzten Legislaturperiode hat die GRÜNE-Landtagsfraktion auf die Gesamtproblematik im Zusammenhang mit Crystal hingewiesen. Mittelaufstockungen im Doppelhaushalt 2015/2016 lassen auf mehr Prävention, Beratung und Behandlung hoffen. Um die Mittel effektiv und zielgruppengerecht einzusetzen, erachtet es der sozial- und gesundheitspolitische Sprecher der GRÜNEN-Landtagsfraktion als unerlässlich, die Expertise von Fachleuten, die direkt und indirekt mit den Auswirkungen des Crystal-Konsums zu tun haben, einzubeziehen.

Suchthilfe aufgrund von Crystal überlastet – Mehr Fachkräfte dringend nötig
In einem einführenden Vortrag berichtete Helmut Bunde, Vorsitzender der Sächsischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren e.V. über die Entwicklung des Suchthilfebedarfs in Sachsen. Er sprach von einem massiven Anstieg des Anteils des Drogen-Konsums in Sachsen: Während 2009 Alkoholkranke noch zwei Drittel der Klientinnen und Klienten im sächsischen Suchthilfesystem ausmachten, betrug 2013 der Anteil der Drogen-Konsumierenden 50 Prozent. Der rapide Anstieg von Crystal-Konsumentinnen und -konsumenten bewirke angesichts der begrenzten Kapazitäten der Suchtberatungs- und -behandlungsstellen eine Verdrängung anderer Suchtkranker aus dem Suchthilfesystem. Insbesondere Alkoholkranke, die nach wie vor die größte Gruppe von Suchtkranken darstellen, seien davon betroffen. Vor diesem Hintergrund begrüßte Helmut Bunde die Aufstockung des Personals in Sachsens Suchtberatungswesen um 25 bis 28 zusätzliche Stellen ab 2015 durch den Landeshaushalt. Damit wäre theoretisch ein Verhältnis von 20.000 Einwohnern pro Fachkraft möglich. Jedoch hängt die Umsetzung von der Bereitschaft der Kommunen zur Ko-Finanzierung ab. Denn diese müssen einen Eigenanteil in Höhe von 20 Prozent aufbringen. Aber auch die Sozial- und Gesundheitssysteme wie die Jugendhilfe, die Berufshilfe oder Geburtsstationen seien betroffen, denn die Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen bildet den größten Anteil an Crystal-Klientinnen und -Klienten.

Sachsen wird viele Jahre mit den Auswirkungen von Crystal zu kämpfen haben – Langfristige Strategien und mehr Forschung gefragt
Andreas Rothe, Leiter der Suchteratungsstelle der Stadtmission Chemnitz berichtete über die aktuelle Situation der Suchtberatung und -behandlung in Chemnitz. Aus seiner Sicht fehlt es bis jetzt an Forschung zum Thema sowie – mit Blick auf die Finanzierungsfrage – an Weitblick in der Politik. In dem Zusammenhang kritisierte er das Fehlen eines Ansprechpartners beispielsweise im Gesundheitsamt, das auch in diesem Bereich eine koordinierende Rolle in der Stadt einnehmen sollte. Die Feststellung von Herrn Bunde, dass auch mehr und mehr Kinder unter der Crystal-Problematik leiden, bestätigte er. Die Stadtmission Chemnitz betreut deshalb zwei eigens auf Kinder ausgerichtete Projekte in ihrer Suchtberatungs- und Behandlungsstelle. Ferner beklagte Andreas Rothe die fehlende Ansprache von Crystal-Konsumierenden, wie es sie beispielsweise bei Heroin-Konsumierenden gibt, um Ansteckungskrankheiten zu vermeiden und somit eine begrenzte Sicherheit zu schaffen. Hierfür sei insbesondere der Bereich Streetwork gefragt. Weil Sachsen noch viele Jahre mit den Auswirkungen von Crystal zu tun haben wird, forderte Rothe einen professionenllen Umgang mit der Problematik, eine auskömmliche und verstetigte, d.h. nicht projektgebundene Finanzierung des Suchthilfesystems, eine stärkere Vernetzung von Akteuren sowie Forschung und die Zusammenführung von Daten.

Die Sucht macht den Beratungsprozess bei Crystal-KlientInnen sehr schwierig und bringt Fachkräfte an ihre Grenzen
Annette Buschmann, Leiterin der Lebensberatungsstelle der Stadtmission Chemnitz berichtete aus Sicht der Familienhilfe. Anhand von Beispielen verdeutlichte sie, wie weitreichend und breit gefächert die Auswirkungen der Alltagsdroge Crystal sind. Sie erzählte von einer jungen Schwangeren, die aufgrund ihres Crystal-Konsums eine schwere Entscheidung zu treffen hat. Von der schwierigen Eltern-Kind Bindung konsumierender Eltern und von einer jungen Frau „aus gutem Hause“, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die Droge ausprobiert. Die Sucht macht einen kontinuierlichen Beratungsprozess bei Crystal-Klientinnen und -Klienten nur sehr schwer möglich, wie sie meint. Erschwerend wirken unter anderem das Kippen von Nähe und Distanz und ein durch Crystal begünstigtes eskalierendes Streitverhalten, entstehende Ko-Abhängigkeiten und das Spannungsverhältnis zwischen Transparenz und Schweigepflicht. Terminsysteme funktionieren bei Crystal-Konsumierenden kaum. Das bringt Erziehungs- und Schwangerenberatung, e Sozialarbeiterinnen und -arbeiter an ihre Grenzen. Annette Buschmann wies abschließend darauf hin, dass es teilweise zu einer Konkurrenz zwischen Hilfesystemen kommt, die es zu vermeiden gilt.

Vernetzung vor Ort und Weiterbildung zu Crystal gefordert
In einer anschließenden Diskussion mit den Referenten und der Referentin sowie den Gästen der Veranstaltung wurde mehrfach die Forderung nach einer stärkeren Vernetzung und Weiterbildung von Fachkräften, insbesondere im pädagogischen Bereich laut. Darüber hinaus müsse die Stadt sich positionieren und eine Vernetzung vorantreiben, beispielsweise durch die Einrichtung einer Stelle für eine oder einen Suchtbeauftragte(n).

Verlässliche und transparente Finanzierung der Suchthilfe durch das Land Sachsen nötig
Die vom Land Sachsen im Doppelhaushalt 2015/2016 eingestellten Mittel in Höhe von 1,4 Mio. jährlich zur Bekämpfung von Crystal wurden positiv bewertet. Aber die daran geknüpfte Projektförderung für anderthalb Jahre wurde von allen Expertinnen und Experten stark kritisiert. Suchtberatung und -behandlung seien langfristige Prozesse, die auf Vertrauensbildung und Kontinuität angewiesen sind. „Projektmittel sind angesichts einer zu erwartenden auslaufenden Förderung paradox“, so Kerstin Knorr, Leiterin der Suchtberatungsstelle des Adventswohfahrtswerks in Chemnitz. Helmut Bunde kritisierte in dem Zusammenhang die Zeitschiene. Kommunen haben die Mittel in ihren bereits beschlossenen Haushalten nicht eingeplant und können dadurch zum Teil keine Kofinanzierung übernehmen. Freie Träger stoßen bei der Erbringung eines Eigenanteils an ihre Grenzen. In dem Kontext stellte er die Kommunalisierung des Bereichs der Sucht- und Drogenberatung an sich infrage. Ferner gäbe es keine Transparenz hinsichtlich der Auswahlkriterien für die zu fördernden Projekte. All diese Punkte gilt es in den kommenden Monaten kritisch zu begleiten.

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