Das Erzgebirge ist Welterbe Montanregion

Warum wir zum Protest „Berggeschrey“ nicht schweigen können

Eine gemeinsame Reaktion von Bernhard Herrmann, Dr. Daniel Gerber und Volkmar Zschocke auf den Widerstand gegen Energiepolitik, Windräder und Migration im Erzgebirge

Am 11. Oktober fand auf dem Annaberger Markt erneut eine Protestkundgebung „Berggeschrey. Mit Herz und Verstand für unser Heimatland“ statt. Laut den Organisatoren ging es um ein dreifaches Nein: Nein zur Energiepolitik, Nein zu Windrädern und Nein zur Migration um jeden Preis.

Protest, Kritik, aber auch Widerspruch sind in einer Demokratie erlaubt und erwünscht. Deswegen widersprechen wir Aussagen, die vor und beim „Berggeschrey“ öffentlich geäußert wurden. Wir wenden uns gegen vereinfachte oder falsche Behauptungen und ein pauschales Nein zu Erneuerbaren Energien und Migration. Wir brauchen kluge Lösungen, keine Blockaden.

Klimaschutz und Waldrettung nicht gegeneinander ausspielen

Beim „Berggeschrey“ wurde ein lautes Nein zur Energiepolitik zum Ausdruck gebracht. Im Fokus stand die Ablehnung von Windkraft im Erzgebirge. Als Begründung wurde angegeben, dass für Windräder Bäume gefällt werden.

Es ist wichtig, dass sich Menschen für den Wald- und Baumschutz einsetzen. Naturschutz und der Ausbau Erneuerbarer Energien müssen zusammengedacht werden. Windkraftanlagen sollten vor allem auf Freiflächen entstehen. Bei sogenanntem „Wind über Wald“, wo Windräder weit über den Wald hinausragen, müssen enge naturschutz-, forst- und wasserschutzrechtliche Aspekte beachtet werden. Der übergroße Teil der Waldflächen ist daher für Windkraft tabu. Nur bei etwa zehn Prozent des sächsischen Waldes stehen für Windkraft keine dieser Aspekte im Wege. Unsere sächsischen Wälder müssen erhalten, geschützt und erweitert werden. Wenn Windkraftanlagen im Wald entstehen, dann müssen für die in Anspruch genommenen Flächen neue Flächen aufgeforstet werden, so dass kein Wald verloren geht.

Klimaschutz ist Waldschutz und Waldschutz ist Klimaschutz. Es ist daher kontraproduktiv, mit einseitigen Argumenten zum Waldschutz die Energiewende im Erzgebirge zu blockieren. Aktuell sind in Sachsens Wäldern vier von fünf Bäumen krank. Ursächlich für die Waldschäden sind aber nicht Windkraftanlagen, sondern der Klimawandel. Wer also den Wald schützen und retten will, muss sich für Klimaschutz und damit auch für den Ausbau der Windenergie einsetzen. Waldschutz und ein pauschales Nein zu Windenergie passen nicht zusammen.

Über Windkraftanlagen im Erzgebirge wird im Erzgebirge entschieden

Beim „Berggeschrey“ wurde kritisiert, dass in Berlin und Dresden entschieden würde, wo Windkraftanlagen entstehen. Das ist so nicht korrekt. In Sachsen werden mögliche Vorrang- und Eignungsgebiete zur Errichtung von Windenergieanlagen von den vier Regionalen Planungsverbänden festgelegt. Für die Genehmigungsverfahren sind die unteren Immissionsschutzbehörden der Landkreise und kreisfreien Städte zuständig. Bei diesen Verfahren werden Öffentlichkeit und Kommunalpolitik beteiligt. Die aus Landesmitteln geförderte Dialog- und Servicestelle für Erneuerbare Energien bietet Informationen, Beratung und Beteiligungsformate an, um den Einbezug der Menschen in ganz Sachsen an der Gestaltung der Energiewende zu ermöglichen. Die Behauptung, dass Windkraftanlagen ohne Einbezug regionaler Strukturen und an den Bürgerinnen und Bürgern vorbei von Dresden oder gar Berlin aus geplant und errichtet werden, ist falsch. 

Statt Anti-Windkraft-Ideologie: Vor Ort erzeugte und bezahlbare Energie

Beim „Berggeschrey“ wurden Erneuerbare Energien als ideologisch abgetan und der Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken gefordert. Aus Kohlemeilern käme nur Wasserdampf. Auch diese Behauptung ist nicht korrekt. Kohlekraftwerke stoßen neben Treibhausgasen und Feinstaub verschiedene giftige Stoffe wie Schwefeloxide, Stickstoffoxide, Ammoniak, Methan, Quecksilber, Blei, Arsen und Cadmium aus. Eine Kilowattstunde Kohlestrom aus Braunkohle ergibt mehr als ein Kilogramm Kohlendioxid. Strom aus Braunkohle zu erzeugen, belastet das Klima enorm. Zudem erfordert der Abbau von Braunkohle massive Eingriffe in Natur und Siedlungsgebiete. Lange Zeit nach dem Abbau bleibt der Wasserhaushalt ganzer Regionen massiv gestört. Wir fragen, ob nicht eher einer Anti-Windkraft-Ideologie gefolgt wird, wenn die Verwüstung ganzer Landstriche mit Wäldern und Dörfern durch den Braunkohleabbau ignoriert und nur der Eingriff in Natur und Landschaftsbild beim Bau von Windrädern thematisiert wird.

Neben Umwelt- und Klimaschutz-Argumenten ist das Vorantreiben der Energiewende auch wirtschaftlich notwendig. Die explodierenden Energiepreise in Folge des russischen Angriffskriegs haben deutlich gezeigt, wie dramatisch sich einseitige Abhängigkeit im Energiebereich auswirken kann. Ohne schnellen Ausbau der Erneuerbaren Energien bleibt das Erzgebirge bei der Energieversorgung von immer teurer werdenden fossilen Energieträgern abhängig – verbunden mit hohen wirtschaftlichen Belastungen für Unternehmen und Haushalte im Erzgebirge.

Statt pauschaler Behauptungen zur Migration: Konkrete Forderungen zur Stärkung der Kommunen

Das „Berggeschrey“ wendete sich gegen „Migration um jeden Preis“. Es wurde behauptet, es gäbe Stadtteile, in denen bald zu 100 Prozent Menschen aus einer anderen Kultur leben würden. Diese Aussage ist weder belegbar, noch geht aus ihr hervor, worin das Problem eines hohen Anteils von Menschen aus anderen Ländern genau besteht. Pauschale Behauptungen sind für eine Auseinandersetzung mit den großen und realen Problemen der Kommunen bei Unterbringung, Versorgung und Integration von Asylbewerberinnen und -bewerbern nicht hilfreich. Sinnvoller wären konkrete Forderungen an den Bund und das sächsische Innenministerium, Migration besser zu steuern und die Kommunen zu entlasten. Auch die Kommunen im Erzgebirgskreis leisten enorm viel, sind aber am Limit oder darüber hinaus. Sie brauchen dringend Unterstützung bei der Bewältigung der Integrationsaufgaben.

Das Kapazitätsproblem ist zuallererst ein Finanzierungsproblem. Die finanziellen Mittel des Bundes müssen sich an der tatsächlichen Zahl der zu uns geflüchteten Menschen ausrichten und zeitnah fließen. Zudem braucht es bessere und belastbarere Organisationsstrukturen für den Bereich Asyl und Integration, mehr Sprachkursangebote und Planungssicherheit für ehrenamtliche Organisationen, die bei Integrationsaufgaben unterstützen. Wer stattdessen pauschal Grenzschließungen fordert, handelt nicht im Sinne der Menschen aus dem Erzgebirge. Wie auch die sächsische Industrie- und Handelskammer deutlich gemacht hat, würden stationäre Grenzschließungen den Personen- und Warenverkehr stark beeinträchtigen und zu Problemen in den Lieferketten führen.

Statt Nein zu Migration: Ja zur Integration in den Arbeitsmarkt

Die Bevölkerungsentwicklung im Erzgebirge ist rückläufig, es fehlen in nahezu allen Branchen Arbeitskräfte. Der Arbeits- und Fachkräftemangel ist für das Erzgebirge eine wachsende Belastung. Es ist überall im Alltag zu spüren, wenn Handwerksbetriebe Aufträge ablehnen müssen, Öffnungszeiten eingeschränkt oder Dienstleistungen nicht mehr erbracht werden.

Anstatt gegen Migration zu kämpfen, würde es Sinn machen, bessere Arbeitsmöglichkeiten für Geflüchtete zu fordern. Diese müssen so schnell wie möglich raus aus dem Sozialsystem und in Beschäftigung kommen. Die allermeisten von ihnen wollen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Viele Unternehmen im Erzgebirge werden von der Senkung der Hürden für Beschäftigung profitieren. Ihnen nützt es, wenn bereits gut integrierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch bleiben können. Erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt vom ersten Tag an, bessere Verfahren bei der Anerkennung von Abschlüssen, Unterstützung für Arbeitsgeberinnen und -arbeitgeber bei der Integration und gute Sprachkursangebote sollten die Forderungen zur Unterstützung der Wirtschaft sein.

Vor allem braucht es gemeinsame Bemühungen um ein weltoffenes und tolerantes Erzgebirge. Migrationsfeindlicher Populismus, Angstmacherei und Schüren von Wut helfen nicht, sondern machen die ohnehin schwierige Situation im Erzgebirge nur noch schlimmer. Das schadet dem gesellschaftlichen Klima und damit letztendlich auch der regionalen Wirtschaft, die auf Arbeitskräfte, die in der Region bleiben wollen, angewiesen ist. Wer die Wirtschaft im Erzgebirge stärken will, sollte nicht Nein zu Migration, sondern ja zu Integration sagen.

Offenheit für Neues und Veränderung: Seit Jahrhunderten Garant für gutes Leben und Prosperität

Die südwestsächsische Region, vor allem das Erzgebirge, haben seit Hunderten von Jahren immer wieder neu Veränderungen erlebt. Offenheit für neue Techniken ebenso, wie für Zuzug, ermöglichten wirtschaftlichen Fortschritt, innovativen Austausch und so letztlich Wohlstand und Prosperität für eine ganze Region. Kreative Köpfe, junge Menschen blieben hier und kamen her. Technologische Innovationen, wissenschaftliche Errungenschaften und beeindruckende Handwerkskunst prägten und prägen den Ruf weltweit und formten zugleich eine wohl einzigartige Kultur- und Naturlandschaft. Das Welterbe Montanregion knüpft daran an und verbindet dies mit einer weiterhin „lebendigen Tradition“. Unserer Meinung nach Anlass genug für eine breite Aufgeschlossenheit, als Grundlage für wiederum gutes Leben und neue Prosperität!

Pauschales Nein zu Energiewende, Migration und Veränderung nützt in der Konsequenz weder der Region, noch spiegelt es die Haltung aller Menschen, die im Erzgebirge leben, wider. Wir schweigen nicht zum „Berggeschrey“, aber wir schreien nicht zurück, sondern setzen auf Austausch und gemeinsames Gestalten der Veränderungsprozesse.

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