Zschocke: Reichlich 4.000 Menschen mit Behinderungen ist es in Sachsen gesetzlich versagt zu wählen
Reichlich 4.000 Menschen mit Behinderungen ist es in Sachsen gesetzlich versagt zu wählen. Dazu kommen weitere Menschen, denen es wegen der Gestaltung des Wahlverfahrens, der Materialien sowie der Wahllokale erschwert ist, ihr Wahlrecht auszuüben.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischem Landtag will dies ändern und hat deshalb einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Wahlrecht in den Sächsischen Landtag eingebracht.
“Die wahlrechtlichen Bestimmungen in Sachsen schließen viele Menschen mit Behinderungen automatisch vom Wahlrecht aus und erlauben ihnen nicht, zu wählen oder sich wählen zu lassen. Betroffen sind vor allem Menschen, bei denen eine Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet ist. Wir wollen diese Diskriminierung noch in dieser Wahlperiode abschaffen und gleichzeitig den Zugang zu Wahlen für alle Wählerinnen und Wähler erleichtern”, erläutert Volkmar Zschocke, sozialpolitischer Sprecher der Fraktion, die Notwendigkeit des Gesetzentwurfs.
“Aber auch Wahlverfahren und Wahlmaterialien sind derzeit so ausgestaltet, dass es nicht allen Menschen möglich ist, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Dazu zählen komplizierte Wahlbenachrichtigungen und Briefwahlunterlagen, unübersichtliche Stimmzettel und Hinweisschilder in kleiner Schrift. Auch die fehlende Barrierefreiheit der Wahlräume gehört dazu. In den Wahlbenachrichtigungen fehlen außerdem Informationen, ob und welche Hilfestellungen es bei der Wahl gibt (z. B. Assistenz vor Ort).”
“Von einem leichteren Zugang zu Wahlen profitieren alle Menschen in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Der Anteil der über 65-jährigen an der Bevölkerung liegt in Sachsen zurzeit bei 25 Prozent. Die im Gesetzentwurf geforderte bessere Erreichbarkeit und Barrierefreiheit der Wahlräume kommt am Ende allen zu Gute.”
Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sieht vor, dass Menschen mit Behinderungen ihre politischen Rechte, insbesondere das Wahlrecht, gleichberechtigt mit anderen wahrnehmen können. Der aktuelle Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD auf der Bundesebene sieht vor, Wahlrechtsausschlüsse von Menschen, die sich durch eine Vollbetreuung unterstützen lassen, zu beenden (Seite 95). CDU und SPD in Sachsen haben im Koalitionsvertrag 2014 vereinbart: >>Von hoher Bedeutung ist für uns ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft. Die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten ist für alle Menschen ohne jede Diskriminierung zu gewährleisten und zu fördern.<< (Seite 17). Die Staatsregierung hat im Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK angekündigt, Anpassungen für Menschen mit Behinderungen für das Landes- und Kommunalwahlrecht zu prüfen.
“Es ist an der Zeit, endlich gleichberechtigte Teilhabe am Wahlrecht zu ermöglichen. Es kann nicht sein, dass volljährigen Staatsbürgern dieses zentrale Bürgerrecht weiterhin vorenthalten wird. Betreuung bedeutet doch nicht, dass Menschen nicht entscheidungsfähig sind. Betreuung bedeutet vielmehr, dass sie Unterstützung brauchen, um Entscheidungen zu treffen”, erklärt Zschocke.
“Andere Bundesländer sind hier viel weiter: In Brandenburg, Bremen, NRW und Schleswig-Holstein sind die Wahlausschlüsse bereits aufgehoben. Sogar auf der Bundesebene besteht Einigung, den Wahlrechtsausschluss von Menschen mit Vollbetreuung zu beenden. Zeit für Debatte war genug, jetzt ist zügige Umsetzung geboten. Weiteres Abwarten führt dazu, dass die betroffenen Personen im nächsten Jahr bei Europa-, Kommunal- und Landtagswahl wieder nicht mitwählen können.”
Der GRÜNE Gesetzentwurf sieht vor, dass ab dem 1. Januar 2023 alle Wahllokale barrierefrei sein müssen. Bis dahin ist eine Übergangsfrist vorgesehen, die es den Kommunen erleichtert sich vorzubereiten. Bis zum 31. Dezember 2022 wird dem Gesetz auch entsprochen, wenn mindestens ein barrierefreier Wahlraum pro Wahlkreis in zumutbarer Entfernung zu Fuß oder mit Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr erreichbar ist.
Hintergrund:
>> Laut einer Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales war es 2014/15 reichlich 4.000 Menschen mit Behinderungen in Sachsen gesetzlich versagt, zu wählen (Seite 46)
Dazu kommen weitere Menschen, denen es wegen der Gestaltung des Wahlverfahrens, der Materialien sowie der Wahllokale erschwert ist, ihr Wahlrecht auszuüben.
Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sieht vor, dass Menschen mit Behinderungen ihre politischen Rechte, insbesondere das Wahlrecht, gleichberechtigt mit anderen wahrnehmen können. Einschränkungen des Wahlrechts sind verfassungs- und völkerrechtlich nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig. Diskriminierende Beschränkungen des allgemeinen Wahlrechts sind stets ausgeschlossen. Eine Reihe internationaler Gremien (das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, das Ministerkomitee des Europarates etc.) haben sich in jüngerer Vergangenheit dafür ausgesprochen, einen Ausschluss vom Wahlrecht, der aufgrund von Annahmen über kognitive Fähigkeiten von Wählerinnen und Wählern bzw. deren Mangel vorgenommen wird, als unzulässige Diskriminierung einzustufen.
>> Beitrag im Deutschlandfunk vom 31.10.18: Bundesteilhabegesetz − Kaum Engagement für die Rechte von Menschen mit Behinderung.
Menschen, die auf Betreuung angewiesen sind, sollen nicht länger von Europa- oder Bundestagswahl ausgeschlossen werden. Eine entsprechende Wahlrechtsreform ist angekündigt – doch bisher ist der Bundestag hierzu kaum tätig geworden.
Photo by Arnaud Jaegers on Unsplash