Debatte zum Tag der Deutschen Einheit − Zschocke: Mit der selben Leidenschaft, mit der Sie hier an die friedliche Revolution erinnern, sollten Sie bitte für die Beteiligung mündiger Bürger auf Augenhöhe streiten
– Es gilt das gesprochene Wort –
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
der Titel der Aktuellen Debatte, Herr Colditz, atmet viel Pathos. Mit Blick auf die Wiege der friedlichen Revolution heute kann ich nur wenig damit anfangen. Weil gerade in Sachsen viele Menschen unzufrieden mit demokratischen Prozessen sind und misstrauisch gegenüber Politikern. Sie fühlen Ohnmacht und Bevormundung, obwohl wir uns 1989 gerade davon befreit haben.
Was ist denn in den letzten 27 Jahren passiert? Warum ist das Misstrauen heute so groß? Aus der Erfahrung des Aufbegehrens gegen das autoritäre DDR-System habe ich immer geglaubt, Opposition sei die zentrale Triebkraft der Demokratie. Deshalb habe ich mich nach der Wende um politische Ämter beworben, um mich einzumischen, um Verwaltung und Regierung zu kontrollieren. Mein Leitspruch war „Demokratie funktioniert dann, wenn ich mitmache.“
Die Erfahrung in Sachsen ist leider eine andere: Aktive Bürgerinnen und Bürger, die sich einmischen, haben oft erfahren, dass genau dies nicht erwünscht ist.
Sie scheitern an intransparenten Behörden, die Politik mit Informationsvorsprüngen machen, die nach Salamitaktik informieren. Oft werden Fakten geschaffen und die Öffentlichkeit erst hinterher informiert.
Sie scheitern an Zermürbung und Diskreditierung ihres Engagements.
Da machen Bürgerinitiativen immer wieder auf unsachgemäß in Sachsen entsorgten Giftmüll aufmerksam. Drohende Gefahren werden bis heute heruntergespielt. Selbst ein Untersuchungsausschuss führte nicht zu Konsequenzen. Irgendwann kapitulieren selbst die zähesten Umweltschützer. Oder wer lässt sich schon gern als gemeinwohlgefährdender Verhinderer diskreditieren, weil er sich für Naturschutz engagiert?
Menschen, die sich für demokratische Kultur oder gegen rechte Gewalt engagieren, wurden hier oft verdächtigt, ausspioniert, auch kriminalisiert. Selbst die Grüne Jugend geriet mal wegen Anti-Atom-Engagement Ende der Neunziger ins Visier des Verfassungsschutzes, während zur gleichen Zeit der NSU in Sachsen untertauchen konnte – unbehindert von Verfassungsschutz und Polizei.
Aktive Bürgerinnen und Bürger scheitern auch an Alibibeteiligung.
Die Staatsregierung hat ja neuerdings den Bürgerdialog entdeckt. Im Zuge des Bürgerdialogs zum Schulgesetz haben sich sehr, sehr viele Menschen beteiligt. Doch werden ihre Anregungen auch berücksichtigt? Statt unverbindlicher Bürgerdialoge von Ministers Gnaden wären verbindliche, durchsetzbare Beteiligungsrechte notwendig.
Unseren Gesetzentwurf zur Verbesserung direkter Demokratie hat die Koalition abgeschmettert. Das alles entspricht nach meiner Wahrnehmung nicht dem Geist von 89. Mit der selben Leidenschaft, mit der Sie hier jährlich an die friedliche Revolution erinnern, sollten Sie bitte für die Beteiligung mündiger Bürger auf Augenhöhe streiten.
Meinen Damen und Herren,
27 Jahre danach glauben viele Sachsen nicht, dass wichtige Entscheidungen innerhalb demokratischer und transparenter Prozesse erfolgen. Eine politische Kultur, in der Opposition Triebkraft der Demokratie ist, wurde in Sachsen seit der Wende unzureichend entwickelt. Es ist ein von Stimmungen und Ängsten beherrschtes Klima entstanden. Differenzierte Diskussionen und Kompromisse werden schwieriger, Parolen und Populismus haben Konjunktur. In diesem eher vordemokratischen Klima konnte ein Bürgerprotest gedeihen, der nicht mehr Opposition gegen Regierungshandeln ist, sondern sich gegen die Institutionen der Demokratie selbst richtet.
Ich will das am heutigen Tag deutlich sagen:
Wer Freiheit und Demokratie feiern will, muss diese Gefahren für Freiheit und Demokratie erkennen und ihnen entschlossen entgegentreten.
Sie wollen Brücken bauen. Heißt Brücken bauen, im Zweifel auch Nazi-Vokabular zu twittern, um Rechtsaußen zu erreichen? Wollen Sie Brücken zu denen, die demokratische Institutionen verächtlich machen? Die rassistisch und völkisch argumentieren?
Die einzige Brücke zu diesen Menschen heißt doch, die klare Erwartung zu formulieren, sich in eine die Menschenwürde respektierende Gesellschaft zu integrieren.
Sie müssen sich gegen die erstarkenden Kräfte zur Wehr setzen, die die deutsche Einheit vor allem als völkische Einheit beschreiben. Denn Freiheit und Einheit bedeuten nichts, wenn individuelle Freiheit, Lebenschancen und Würde des Einzelnen auf der Strecke bleiben.
Rede des Abgeordneten Volkmar Zschocke (GRÜNE) zur Aktuellen Debatte der Fraktionen CDU und SPD “Sachsen, Wiege der friedlichen Revolution: Freiheit und Einheit feiern − Brücken bauen’, 42. Sitzung des Sächsischen Landtags, 29. September 2016, TOP 1