Redebeitrag des Abgeordneten Volkmar Zschocke zur Aussprache zum Bericht der Enquete-Kommission:
„Bericht der Enquete-Kommission Sicherstellung der Versorgung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege älterer Menschen im Freistaat Sachsen“, Drs 6/15400, TOP 4
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
seit Einsetzung der Enquete-Kommission sind drei Jahre vergangen. Während wir Sachverständige angehört und Handlungsvorschläge diskutiert haben, hat sich der Pflege-Notstand in Sachsen weiter verschärft. Das zeigt schon ein Blick auf die Zahlen: Hatten wir 2015 knapp 167 Tausend Pflegebedürftige in Sachsen, so zeigen die aktuellen Zahlen einen Anstieg auf weit über 204 Tausend. Und diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Die Anzahl der Pflegebedürftigen steigt weiter während die Zahl der Erwerbstätigen sinkt. Bundesweit werden Hunderttausende Pflegekräfte fehlen. Die Zeit für Anhörungen und Berichte muss nun vorbei sein. Jetzt müssen Bund, Länder und Kommunen schnellstens in die Gänge kommen. Zwei Millionen Euro im sächsischen Landeshaushalt für die Umsetzung von Handlungsempfehlungen der Enquete sind angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Herausforderungen wachsen, nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ich will auf drei dringende Herausforderungen näher eingehen:
Erstens: Wir müssten uns eigentlich schämen vor den vielen alte Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, die sich um ihre Kinder gekümmert haben, später vielleicht auch noch um die Enkel. Die ihr Leben lang sparsam gelebt haben und die jetzt trotzdem ihre gesamte Rente aufbieten müssen,
um den steigenden Eigenanteil an den Heimplatzkosten bezahlen zu können. Es ist beschämend, dass einige von diesen alten Menschen im Alter sogar zum Sozialfall werden, weil die Rente nicht reicht, diesen Eigenanteil zu finanzieren.
Der von Pflegebedürftigen oder ihren Angehörigen zu tragende Anteil hat sich von 1999 bis 2015 mehr als verdoppelt. Und wenn wir hier nicht gegensteuern, wird er immer weiter wachsen. Was ist das denn für eine Sozialversicherung, die ihre Versicherten nicht vor dem Abrutschen in die Sozialhilfe schützt?
Wir haben viele gute Handlungsempfehlungen in unseren Bericht geschrieben – für Qualitätssteigerung in der Pflege, für besser bezahlte Pflegekräfte,
für mehr Zeit in der Pflege. All die daraus resultierenden Kostensteigerungen müssen bei Beibehaltung der bisherigen Systematik die Pflegebedürftigen faktisch allein finanzieren. Denn die Pflegeversicherung übernimmt ja nur einen fixen Betrag, der nur selten und nie ausreichend erhöht wird.
Wir brauchen daher eine grundlegende Neuausrichtung der Pflegefinanzierung: Der Eigenanteil muss gedeckelt werden, damit die finanzielle Belastung für die Betroffenen kalkulierbar wird. Die Reformvorschläge zum sogenannten ‚Sockel-Spitze-Tausch‘ mit fixen Eigenanteilen liegen auf dem Tisch.
Dann muss dringend mehr Geld in das System – durch Einbeziehung aller Einkünfte, auch die der Verbeamteten, der Abgeordneten und der Selbstständigen in eine solidarische Pflege-Bürgerversicherung. Alle Einkunftsarten – auch Vermögenseinkommen, Gewinne und Mieteinkünfte – müssen in diese Finanzierung einbezogen werden.
Und das Geld muss dann aber auch im System bleiben. Es darf nicht abfließen an internationale Finanzspekulanten oder Hedgefonds. Pflege darf kein lukrativer Markt für Aktionäre werden. Wenn private Kapitalanleger hohe Gewinne aus einem Bereich ziehen wollen, in dem der weit überwiegende Teil der Leistungen aus Pflegeversicherung oder Sozialhilfe kommt, muss der Staat einen Riegel vorschieben.
Zweitens:
Mein kommunalpolitisches Engagement geht in die Zeit zurück, in der es noch die kommunalen Altenhilfepläne gab als Steuerungsinstrument, um Investitionen gezielt zu lenken. Mit der Pflegeversicherung entstand dann ein freier Markt mit einigen positiven, aber auch vielen negativen Folgen.
Die Kommunen müssen wieder mehr Planungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erhalten z.B. durch ein Landespflegegesetz. Sie brauchen eine integrierte Förderstrategie, um die Stadtteile und Ortskerne sozial und generationengerecht entwickeln zu können, um den Tendenzen sozialer Entmischung und der Verdrängung Einkommensschwacher aus bestimmten Quartieren entgegenzuwirken. Barrierefreier, bezahlbarem Wohnraum ist genauso wichtig wie die Förderung innovativer Wohnformen für ältere Menschen als Alternative zu Pflegeheimen.
Die Kommunen brauchen in den Quartieren Personal für Beratung, für Case-Management und Quartiersentwicklung, Menschen in Gemeinwesenzentren, die die Brücken bauen helfen zwischen den Generationen und Nachbarschaften im Stadtteil, die die Ressourcen gegenseitiger Unterstützung im Sozialraum erschließen. Wir sind auf diese Ressourcen unbedingt angewiesen, denn nicht alle im Alter eintretenden Bedarfe können über professionelle Angebote befriedigt werden.
Steigt das Alter, sinkt für viele die Mobilität. Der Aktionsradius wird kleiner. In einem gut funktionierenden Quartier muss dies aber nicht zwingend zu sozialer Isolation, Vereinsamung oder Verschlimmerung der Situation führen: fußläufig erreichbare Einkaufsmöglichkeiten, öffentlicher Nahverkehr, Ärztinnen und Ärzte sowie ein Mix aus Pflege- und Unterstützungsangeboten und Mobilitätsdienstleistungen vor Ort sind zudem eine Mehrwert für alle Menschen im Quartier. Was gut ist für Senioren – ist auch für Familien mit kleinen Kindern gut – z.B. kurze Wege, Barrierearmut oder eine gute Versorgungsinfrastruktur.
Wir GRÜNEN setzen uns seit Jahren für ein Landesprogramm zur Förderung generationengerechter, barrierefreier Quartiere in Sachsen ein. Diese Aufgabe einer integrierten, zukunftsfähigen Entwicklung muss als ressortübergreifende Aufgabe jetzt dringend strategisch angegangen werden.
Dritte Herausforderung:
Viele Menschen haben Vorbehalte gegenüber der wachsenden Vielfalt in unserer Gesellschaft. Und vielleicht sitzen auch hier im Saal Abgeordnete,
die von Schulen, Stadtteilen oder Pflegeeinrichtungen phantasieren, wo heterosexuelle, christliche Biodeutsche unter sich bleiben. Allein – diese Phantasie geht an der Realität der gesellschaftlichen Entwicklung komplett vorbei.
Sachsen wird internationaler, die Gesellschaft wird vielfältiger. Das wird auch die Pflege tiefgreifend verändern: Internationale Belegschaften, unterschiedliche kulturelle und religiöse Prägungen und Gewohnheiten, verschiedene sexuelle Identitäten der zu Pflegenden. Die wachsende Vielfalt in der Pflege ist keineswegs ein zu vernachlässigendes Randthema. Sie ist mit großen Unsicherheiten, Verständigungs- und Akzeptanzproblemen auf allen Seiten verbunden.
Bei der Pflege spielt zum Beispiel die Lebensgeschichte eines Menschen, seine Prägung und Identität eine große Rolle. Wird die individuelle Lebensgeschichte besser eingebunden, kann die Pflegediagnostik wesentlich verbessert werden. Das Personal braucht daher dringend mehr Zeit für die Biographiearbeit, damit Pflege sich stärker an der individuellen Lebensgeschichte der zu Pflegenden ausrichten kann, mit biographischen Brüchen mit alten und oder auch noch nach ganz frischen Kriegserfahrungen mit familiären Wurzeln aus verschiedensten Regionen dieser Welt.
Kultur- & diversitätssensible Aspekte brauchen mehr Raum in der Aus- und Weiterbildung. Die Anpassung der Lehrpläne im Rahmen der Einführung der generalistischen Pflegeausbildung ist eine gute Chance, die Pflege auch in diesem Bereich zukunftsfest zu machen. Die Lebenspartner müssen als An- und Zugehörige angemessen in die Pflege einbezogen werden, denn sie sind oft viel mehr als nur gute Freundin oder Freund.
Pflegeeinrichtungen müssen für alle, egal welcher Herkunft, Kultur, Religion oder sexueller Identität als diskriminierungsfreie Orte gestaltet werden. Pflegende und Personal müssen darin wirksam vor Diskriminierung geschützt sein.
Meine Damen und Herren,
ich möchte zum Schluss kommen und mich für die Zusammenarbeit in der Enquetekommission bedanken, insbesondere bei den Sachverständigen
für die aufschlussreichen und zum Teil aufrüttelnden Vorträge und vor allem bei den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, die die große Menge an Informationen zu filtern und zu gliedern hatten und immer ein offenes Ohr für Anregungen hatten.
Bei der Einsetzung der Enquete vor drei Jahren war ich skeptisch. Meine Befürchtung war, dass wir viel Zeit verlieren und es in dieser Legislatur
nicht mehr zur Umsetzung der Empfehlungen kommt. Jetzt ist die Legislatur fast vorbei. Deswegen appelliere ich an Staatsregierung und Koalition,
umgehend mit der Umsetzung der Handlungsempfehlungen zu beginnen. Sonst waren es für diese Legislatur am Ende wirklich drei verlorene Jahre.
Zum GRÜNEN-Entschließungsantrag
die Arbeit der Enquete war geprägt von einer großen Bereitschaft, die verschiedenen Vorschläge der Fraktionen und Sachverständigen aufzunehmen. Und so freue ich mich, dass Teile des Berichts auch eine GRÜNE Handschrift tragen. Ein Bericht, der alles aufnimmt, birgt allerdings auch die Gefahr, dass er samt der vielen guten Handlungsempfehlungen der Sachverständigen in den Regalen des Landtags und der Ministerien verstaubt.
Deswegen habe ich mich dafür eingesetzt, im Bericht eine Empfehlung für Sofortmaßnahmen zu verankern. Sie sollen ermöglichen, noch in dieser Wahlperiode den Weg für bessere Bedingungen in der Pflege zu ebnen. Der Vorschlag umfasst zehn Maßnahmen zur Verbesserungen in den Bereichen Wohnen und Quartier, Ausbildung, pflegende Angehörige sowie Wertschätzung und Stärkung der Fachkräfte. Diese Maßnahmen sind nicht strittig, strittig ist nur der Zeitpunkt der Umsetzung. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Die Enquetekommission ist sich darüber einig, dass es notwendig ist die Pflegekräfte erneut über die Gründung einer sächsischen Pflegekammer oder einer anderen Form der beruflichen Selbstverwaltung in Gestaltung einer repräsentativen Studie zu befragen und diese bei einer Befürwortung entsprechend auf den Weg zu bringen.
Wir GRÜNE sagen: Das können wir sofort machen! Warum die Legislatur verstreichen lassen? Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für diese Befragung.
Sie finden weitere neun konkrete Maßnahmen, die noch in dieser Legislatur angegangen werden können. Es ist wichtig, drei Jahre nach der Konstituierung der Enquete-Kommission, die Empfehlungen vom Papier schnell in die Realität umzusetzen. Es gilt jetzt schnell große Schritte zu gehen, um einer der größten gesellschaftlichen Herausforderung unserer Zeit begegnen zu können.
Zum Entschließungsantrag der LINKEN
Wir unterstützen den Antrag der LINKEN.
Aus dem Aufforderungsteil diese Entschließungsantrages möchte ich vor allem die Punkte 9 und 10 herausstreichen.
Viele Pflegekräfte setzen sich trotz schwierigster Arbeitsbedingungen jeden Tag voller Leidenschaft und Empathie für die zu Pflegenden ein. Das Gleiche gilt für die vielen Angehörigen, ohne die Pflege gar nicht funktionieren würde. Gerade die Angehörigen stoßen aber nicht selten an ihre Belastungsgrenzen. Für Sie ist es selbstverständlich, persönliche Belange zurückzustellen und sich ihren Liebsten zu widmen. Das geht teilweise bis hin zu einer für die eigene Gesundheit gefährliche Selbstaufgabe. Die öffentlich Wertschätzung für die enormen Leistungen der Angehörigen ist zwar sehr wichtig, aber wir dürfen es nicht dabei belassen. Die pflegenden Angehörigen brauchen mehr als Wertschätzung. Sie brauchen mehr als eine Woche pflegender Angehöriger. Sie brauchen Entlastung und Unterstützung das ganze Jahr. Der geforderte Handlungsplan zur konkreten Entlastung pflegender Angehöriger muss daher schnellstens auf den Tisch.