Nachdenken über alte Dias und die eigene Geschichte

Die Fotos sind 35 Jahre alt. In der Nacht vom 4. zum 5. Oktober 1989 lief ich mit meiner Kamera zum Hauptbahnhof. Es hieß, dass Sonderzüge mit Geflüchteten aus der Prager Botschaft durch Karl-Marx-Stadt nach Westdeutschland fahren würden.

Die Lage vorm Haupteingang war angespannt. Manche meinten, man könne auf die Züge aufspringen. Gegen 23 Uhr war der Bahnhofsvorplatz proppenvoll. Sicherheitskräfte drängten die Menschen zurück. Gegen halb eins beruhigte sich die Situation etwas. Der Bahnhof wurde abgeriegelt, ein Wasserwerfer stand bereit.

Ich wollte die Szene festhalten, hatte aber Angst, das Blitzlicht einzusetzen. Ich wusste von den vielen Verhaftungen, wurde selbst schon „zur Klärung eines Sachverhaltes“ der Polizei vorgeführt. Wer damals zu leichtsinnig war, musste mit harten Konsequenzen rechnen.

Einen Farbfilm ohne Stativ oder Blitz bei Nacht zu belichten, war schwierig. Von der Schulter eines Bekannten fotografierte ich mit langer Belichtungszeit. Die Bilder sind zwangsläufig verwackelt. Uhrzeit und einige Details sind erkennbar.

Entstanden sind schlechte Amateurfotos einer nächtlichen Szene. Doch für mich sind sie von emotionaler Bedeutung. In den Bildern steckt meine jugendliche Wut auf die ‚Scheiß-DDR‘, die Angst vor Repressionen und die Sehnsucht nach Freiheit.

Zu diesen emotionalen Erinnerungen des damals 20-Jährigen drängen sich aktuelle Fragen eines heute 55-Jährigen: Warum bewerten viele Ostdeutsche meiner Generation die historischen Fluchtbewegungen aus der DDR (über 3 Millionen Menschen!) so komplett anders als aktuelle Migrationsbewegungen?

Ich höre häufig, dass DDR-Flucht vor allem als innerdeutscher Vorgang interpretiert wird. Weil ja Deutsche zu Deutschen geflohen seien, während Geflüchtete aus nicht deutschen Ländern als Fremde oder gar als Bedrohung wahrgenommen werden. Weit verbreitet ist auch die Haltung, Geflüchtete als Sündenböcke für aktuelle Probleme zu betrachten, als sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Aber gerade die Geschichte der Deutschen ist doch eine Jahrhunderte lange Geschichte von Flucht und Vertreibung.

Für mich macht es keinen Sinn, zwischen „guter“ und „schlechter“ Flucht zu unterscheiden. Die Sehnsucht nach Freiheit und einem besseren Leben treibt Menschen immer wieder dazu, ihre Heimat selbst unter großen Gefahren zu verlassen. Ich kann die Flucht von Millionen Bürgerinnen und Bürgern aus der DDR daher nicht isoliert betrachten. Sie steht im globalen Kontext von Flucht und Migration.

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