Ja zur Versammlungsfreiheit. Nein zur Stimmungsmache gegen den demokratischen Rechtsstaat.

Es wird aktuell viel über die Montagsdemonstrationen diskutiert. Es ist cirka 33 Jahre her, als ich bei der ersten größeren Demo in Karl-Marx-Stadt mitgelaufen bin. Ich hatte große Angst. An der Zentralhaltestelle wurden dann auch viele verhaftet. In der Freien Presse war danach von „verantwortungslosen Provokateuren“ die Rede. Gemeint waren wir und mich hat das damals sehr wütend gemacht. Denn wir wollten ja Verantwortung für unser Land übernehmen und nicht provozieren. 

Und deswegen darf es auch heute keine Vorverurteilungen von Menschen geben, die in ihrer Not auf die Straße gehen. Ich habe volles Verständnis für all die Menschen und Unternehmen, die angesichts existenzbedrohender Energiepreise in Sorge sind und protestieren. Putin setzt die Unterbrechung der Gaslieferungen als Waffe gegen die Europäische Union ein und das führt zu heftigen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. Gerade in der Region Chemnitz/Erzgebirge sind die Einkommen und Vermögen vergleichsweise gering. Die aktuelle Entwicklung kann da große Angst machen. Es gehört zur Demokratie, auch lautstark Wut und Ärger über Regierung und Parteien auf die Straße zu bringen.

Wir waren im Herbst 1989 für Freiheit und Bürgerrechte auf der Straße. Die Diktatur wurde friedlich abgelöst durch eine parlamentarische Demokratie. Im Herbst 2022 blasen die sogenannten „Freien Sachsen“ nun zum Sturm auf genau diese parlamentarische Demokratie. Ja zur Versammlungsfreiheit. Sie ist ein sehr hohes Gut. Aber ein ganz klares Nein zu rechtsextremer Stimmungsmache. Ich habe kein Verständnis, wenn die große Not der Menschen ausgenutzt wird, um die Stimmung gegen den demokratischen Rechtsstaat zu drehen. Versammlungsfreiheit, Meinungspluralität, Mitbestimmung, freie Wahlen – all das wird ja gerade durch diesen Rechtsstaat garantiert. Wer gegen diesen marschiert, vergreift sich an den zentralen Errungenschaften der friedlichen Revolution.

Wenn ich das anspreche, ist die Empörung groß: „Wir sind doch keine Nazis!“ Ja, dann muss man sich aber auch klar machen, wem man hinterherläuft und wem nicht. Niemand muss mit Rechtsextremen demonstrieren, um sich Gehör zu verschaffen. Man kann selber eine Versammlung anmelden. Man kann sich bei den Gewerkschaften engagieren oder auch selbst kandidieren, um in den Parlamenten Einfluss zu nehmen. Ich engagiere mich seit 1992 in Kommunalparlamenten und mische mich da ein. All das war mir in der DDR verwehrt.

Ich kann natürlich nachvollziehen, dass das Grundvertrauen in die Demokratie bei vielen nicht so stark ausgeprägt ist. Die demokratischen Verfahren sind zeitaufwändig, komplex und häufig schwer verständlich. Immer müssen gegensätzliche Interessen in Ausgleich gebracht werden. Das ist für alle Seiten sehr anstrengend. Und die erzielten Kompromisse sind oft auch nicht zufriedenstellend. Aber das ist doch trotzdem viel besser, als wenn autoritäre Machthaber über unsere Köpfe hinweg entscheiden, Wahlen manipulieren, Demonstrationen niederknüppeln und Kritiker verhaften lassen.

32 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung wünsche ich mir mehr Wertschätzung und Leidenschaft für Demokratie. Es darf nicht sein, dass in bestimmten Regionen sich Menschen nicht mehr trauen, zum Beispiel für den Gemeinderat zu kandidieren – aus Angst vor Anfeindungen. Wenn von AfD und anderen Rechtsextremen ein „Heiße Herbst“ heraufbeschworen wird, empfinde ich das schon bedrohlich. Niemand kann Ausschreitungen wollen. 2018 haben wir aber genau das leider in Chemnitz erlebt.

Manche meinen nun, man solle die rechtsextreme Vereinnahmung der aktuellen Montagsdemonstrationen in Sachsen nicht laut ansprechen, um in der angespannten Situation nicht noch mehr zu polarisieren. Polarisieren will ich nicht. Aber ich kann einfach nicht dazu schweigen, wenn Rechtsextreme und Demokratiefeinde den Protest instrumentalisieren. Und ich appelliere auch an alle anderen, nicht länger dazu zu schweigen.

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