50 Jahre Karl-Marx-Monument: Warum der „Nischl“ zu meinem Leben gehört

Als Kind habe ich ihn oft lange angeschaut. Wohin blickt der eigentlich? Auf mich? Durch mich hindurch? Über mich hinweg? Ich bin zwar im Laufe meines ersten Lebensabschnittes auf 1,80 Meter angewachsen. Auf Augenhöhe mit ihm bin ich aber bis heute nicht gekommen. Dafür kann er nichts. Und ich auch nicht. Zu hoch der Sockel, zu groß die Büste.

Durch fünf Jahrzehnte ist sein Blick immer derselbe geblieben. Er blickt ernst über die breite, kahle Aufmarsch-Allee, über die ich als Schüler bei den verordneten Paraden am 1. Mai marschieren musste. Zwar ohne so ein Halstuch, wie es meine Mitschülerinnen und Mitschüler trugen, die alle außer mir bei den Jung- und später bei den Thälmann-Pionieren waren. Aber mit kleinen Fähnchen aus Papier, auf die Friedenstauben oder DDR-Wappen gedruckt waren. Zugewunken haben wir den Polit-Funktionären der SED, die vor dem Monument standen. Die haben beim Winken die Hand immer so vorm Gesicht hin- und herbewegt. Das haben wir dann auch gemacht. Bis wir ermahnt wurden, dies zu lassen …

Tief bewegt haben mich als junger Mensch die ersten großen Versammlungen vorm „Nischl“ im demokratischen Aufbruch Herbst 89. „Demo – Dialog – Reform“ und „Neues Forum“ stand auf den Bannern am Sockel des Monuments. Es ging darum, die DDR zu reformieren und nicht darum, sie zu verlassen. Wenige Monate später blickte der „Nischl“ über ein Meer von Deutschlandfahnen. Aus den Rufen „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk!“. Und es darf auch nicht unterschlagen werden, dass im nationalen Taumel der bevorstehenden Wiedervereinigung bereits damals auch völkisch-nationalistische Töne dabei waren.

Wenige Jahre später blickte die Büste des großen Kapitalismuskritikers und Protagonisten der Arbeiterbewegung über die Protestbanner der Gekündigten aus den stillgelegten volkseigenen Betrieben. Als Sozialarbeiter habe ich damals auch Menschen betreut, die in die Arbeitslosigkeit gestürzt waren. Auf dem Weg zum Arbeitsamt hinterm „Nischl“ führte der Weg immer an ihm vorbei und ich dachte mir oft: „Ja, lieber Karl-Marx, dass ging dann vielleicht doch zu schnell mit der Wiedervereinigung.“ Aber gab es denn realistische Alternativen?

Mit der Zeit eroberten sich die Kids die Anlage mit ihren Skateboards. Die Jahrmarktsbuden der Schausteller beim jährlichen Stadtfest oder jubelndes Konzertpublikum bei großartigen Konzerten ließen die schweren Jahre nach 1989 etwas vergessen. An seinem ernsten Blick hat das nichts geändert. Es gab auch wenig Grund, milde zu lächeln, als 2018 die AfD gemeinsam mit gewaltbereiten extremen Rechten unter seinen Augen den Schulterschluss suchte. Unerträglich, wie die Feinde der Demokratie von „Pro Chemnitz“ regelmäßig den Platz vorm „Nischl“ aufsuchten, um sich in die Tradition der Demokratiebewegung von 1989 zu stellen. Der „Nischl“ wurde Zeuge einer rassistischen Mobilisierung, der sich leider auch viele Chemnitzerinnen und Chemnitzer anschlossen. Er wurde aber auch Zeuge unserer bürgerschaftlichen Mobilisierung für Demokratie, Pluralität und Weltoffenheit. Ich will es nicht zulassen, das extreme Rechte den zentralen Platz der friedlichen Revolution in Chemnitz völkisch-national umdeuten.

Ja, er hat viel gesehen und sehen müssen in den letzten 50 Jahren. Ungefragt wurde der riesige Schädel von Karl Marx meiner Heimatstadt mitten ins Zentrum gewuchtet. Damals eine monströse Machtdemonstration autoritärer Führungseliten und Symbol staatlich verordneter Weltanschauung. Heute ist das Monument der Deutungshoheit totalitärer Ideologen längst entzogen. Der „Nischl“ ist Denkmal, Touristenattraktion und Veranstaltungsort. Ich finde es gut, dass er nie vom Sockel gestürzt wurde. Er ist selbstverständlicher kultureller Bestandteil und vertraute Konstante in einer Stadt voller Widersprüche und Kontroversen, mit tiefen Umbrüchen und rasanten Veränderungen. Und damit ist er auch ein Teil meines Lebens in dieser Stadt. Er gehört dazu und das soll auch in Zukunft so bleiben. Das ist auch der Grund, weshalb ich als Bürger meiner Stadt die heute eingeweihte Informationsstele mit gesponsert habe.

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