Flucht, Vertreibung, Hoffnung – Wie sicher ist Afghanistan? Ein Bericht zur Veranstaltung

 

Im Herbst 2016 hat die Bundesregierung mit einem deutsch-afghanischen Abkommen den Weg für Abschiebungen in das vom Krieg gebeutelte Land geebnet. Kurz darauf haben die ersten Sammelabschiebungen von afghanischen Geflüchteten stattgefunden. Begleitet wurden diese von erheblichem Protest – vor den Flughäfen, in den sozialen Medien und in Form von Petitionen, die einen sofortigen Abschiebestopp fordern. Denn die Grundlage für die Entscheidung für Abschiebungen nach Afghanistan bildet eine Sicherheitsbewertung Afghanistans, die von vielen, darunter das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), Pro Asyl, der Evangelischen Kirche Deutschland und Politikern als sehr fragwürdig eingeschätzt wird.

Die Diskussion darüber, ob es vertretbar ist, Menschen nach Afghanistan abzuschieben, war Anlass für Volkmar Zschocke, Fraktionsvorsitzender von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag in einer Veranstaltung der Frage auf den Grund zu gehen: „Wie sicher ist Afghanistan?“ Unter dem Titel „Flucht, Vertreibung, Hoffnung – Wie sicher ist Afghanistan?“ diskutierte der Chemnitzer Landtagsabgeordnete darüber am 7. März 2017 im Weltecho in Chemnitz gemeinsam mit Erik Marquardt, Fotograf, Fotojournalist und Politiker im Parteirat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Jana Büttner-Roßberg, Flüchtlingshelferin aus dem Erzgebirge und Einreicherin einer Petition für einen „Sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan“.

Erik Marquardt war im Januar 2017 in Afghanistan und hat in einem fesselnden Fotovortrag authentische Eindrücke und Erzählungen über die tatsächliche Situation vor Ort geschildert. Sein Anliegen war es, den Blick weg von der innenpolitischen Diskussion über Abschiebungen hin zur Situation im zerrütteten Land zu lenken – auf die Lebensbedingungen und Perspektiven der Menschen in Afghanistan.

Den knapp 100 Zuschauern bot er einen Einblick in ein Land, über dessen tatsächliche Situation kaum einer mehr einen realistischen Überblick hat. Ausländische Diplomaten und Militärs halten sich in einem abgeriegelten Areal auf und erfahren über Berichte, was außerhalb des geschützten Geländes passiert. Diejenigen Afghanen, die es sich leisten können, leben hinter von Sicherheitskräften bewachten Mauern. Es sind die wenigsten.

Die Anderen leben oftmals unter menschenunwürdigen Bedingungen in provisorischen Unterkünften und Zelten – auch bei Temperaturen weit unter null Grad Celsius. In einem Zeltcamp in Mazar-e Scharif leben verzweifelte Menschen, darunter viele Kinder, ohne eine Perspektive auf eine Grundlage zur Existenzsicherung. In Kabul halten sich viele mit Tagelöhnerarbeiten für kaum mehr als einen Euro am Tag irgendwie über Wasser. Kinder ziehen durch die Straßen und suchen nach Arbeit oder sammeln Müll, um damit zum geringen Familieneinkommen beizusteuern, anstatt in die Schule zu gehen. Medizinische Versorgung gibt es für die Meisten schlichtweg nicht, lediglich Kriegsversehrte werden noch im Militärkrankenhaus der Stadt Kabul behandelt. Denn regelmäßig ereilen kriegerische Auseinandersetzungen und Terroranschläge von IS und Taliban das bunte Treiben, das beim genauen Hinschauen ein Kampf ums Überleben ist. Wann und wo ist ungewiss. Die Sicherheitslage ist volatil und vor Ort teilt keiner die Einschätzung, es gäbe sichere Gebiete im Land.

Erik Marquardt gibt bei seinen Schilderungen zu bedenken, dass es für die Menschen am Ende egal ist, ob ihr Leben durch Krieg und Terror oder durch Hunger und Krankheit bedroht ist. Vor diesem Hintergrund sei die Äußerung des Bundesinnenministers de Maizière, Zivilisten seien nicht Ziel, sondern nur Opfer von Gewalt in Afghanistan zynisch. Zum Abschluss seines Vortrags erinnert er, angesichts der verbreiteten Rhetorik in Debatten über Geflüchtete, dass es sich nicht um Naturkatastrophen handelt – weder Fluten, noch Wellen, noch Lawinen – vor denen man sich schützen müsse, sonder um Menschen, die Schutz und Hilfe brauchen. Anstatt diese Menschen zu drangsalieren, sollte es unser Ziel sein, Geflüchtete durch Bildungschancen und Demokratieerfahrungen in die Lage zu versetzen, zu gegebenen Zeitpunkt ihr Land wieder aufzubauen.

Die Erzgebirglerin Jana Büttner-Roßberg hat eine Petition an den Deutschen Bundestag gestartet, die einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan fordert. Antrieb und Motivation für diesen Schritt war das Gefühl der Ohnmacht. In ihrer ehrenamtlichen Arbeit wurde sie hautnah mit den Ängsten und der Hoffnungslosigkeit von Geflüchteten konfrontiert, denen eine Abschiebung droht. Mit ihrer Initiative will sie Ohnmacht überwinden anstatt zu resignieren. Dabei schilderte sie auch den Gegenwind im persönlichen Umfeld gegen ihr Engagement für die Belange von Geflüchteten.

Auf die Frage aus dem Publikum nach politischer Unterstützung für einen sofortigen Abschiebestopp erklärte Volkmar Zschocke, dass die GRÜNE-Bundestagsfraktion sich für eine Änderung der Sicherheitsbewertung durch die Bundesregierung stark macht. Es liegt in der Hand von Außenminister Gabriel, eine seriöse Überprüfung der Sicherheitsbewertung vorzunehmen, die auf einer veralteten Datenbasis fußt und im Grunde Ausdruck einer innenpolitisch motivierten Außenpolitik ist. Die Innenminister der Länder sind gezwungen, geltendes Recht zu vollziehen. Spielraum ergibt sich für die Landespolitik lediglich durch eine Prüfung individueller Abschiebehindernisse, wie sie im Aufenthaltsrecht beispielsweise aufgrund der familiären Situation, des Gesundheitszustandes, der Dauer des Aufenthalts, bereits erbrachter Integrationsleistungen oder einer Berufsausbildung vorgesehen sind. Darüber hinaus kann gemäß § 60a AuffenthaltsG die oberste Landesbehörde anordnen, dass aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Abschiebung in bestimmte Staaten für längstens drei Monat ausgesetzt wird (Abschiebestopp).

Zum Abschluss der Veranstaltung kam aus dem Publikum der Aufruf, sich gegen Abschiebungen stark zu machen. Wenn es ausreichend Stimmen gibt, die die Praxis der Bundesregierung in Frage stellen, könne gerade in Wahlkampfzeiten etwas bewegt werden. „Damit das Böse gewinnt, braucht es nur genug Gute, die nichts tun!“ lautete das Schlussstatement von Erik Marquardt, das Jana Büttner-Roßberg ergänzte mit dem Aufruf: „Seid laut!“

Petition „Sofortiger Abschiebestopp nach Afghanistan“

Petition „Keine Abschiebungen nach Afghanistan!“

Bericht der Freien Presse zur Veranstaltung „Nachrichten aus den zwei Welten von Kabul“ vom 9.3.2017

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